Präsidentenwahl in Frankreich – Europas letzte Chance?

Dass der dezidiert proeuropäische Kandidat Emmanuel Macron es in den zweiten Wahlgang geschafft hat, ist „eine große Chance für Europa“, schreibt EUD-Generalsekretär Christian Moos in seinem persönlichen Einwurf. Ob diese Chance ergriffen und Europa aus der Krise geführt wird, hängt in hohem Maße auch von der künftigen deutschen Politik ab. Nicht nur muss die deutsch-französische Freundschaft wiederbelebt werden, auch ein generelles politisches Umsteuern ist notwendig. Moos fordert mehr Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur und die Einrichtung eines europäischen Marshallplans.

Erleichterung über den Ausgang des ersten Wahlgangs

Kollektives Aufatmen nach dem ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl vom 23. April. Der einzige proeuropäische Kandidat, der parteiunabhängige, erst 39jährige Emmanuel Macron hat es in den entscheidenden zweiten Wahlgang geschafft, der am 7. Mai in Frankreich stattfindet. Seine Herausforderin ist erwartungsgemäß die Rechtsextremistin Marine Le Pen. Sie wird ihm aber unterliegen, wenn auch nicht mehr so deutlich wie vor 15 Jahren ihr Vater Jean-Marie Le Pen dem Neo-Gaullisten Jacques Chirac.

Sicherlich gab es 2016 mit dem Brexit-Referendum und der amerikanischen Präsidentenwahl gleich zwei katastrophale Ereignisse, mit denen vorher nur wenige gerechnet hatten. Besonders an die Wahl Trumps hatte eigentlich kaum jemand geglaubt. Insoweit bleibt ein gewisses Maß an Vorsicht geboten. Besonders die französischen Wählerinnen und Wähler, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Europäische Union und letztlich auch ihre Republik bewahren wollen, sind nun aufgefordert, Macrons Wahl nicht für selbstverständlich anzusehen. Denn sonst droht doch noch das Undenkbare einzutreten.

¡No pasarán!

Das französische Wahlsystem und die politische Kultur des Landes machen einen Wahlsieg Le Pens aber fast unmöglich. Noch. Denn noch beschränkt sich ihr festes Wählerreservoir auf 20 bis 25 Prozent. Vor allem aber steht ihr ein republikanischer Block gegenüber. Die „republikanische Front“ steht gegen den „Front National“. So haben die unterlegenen französischen Sozialisten, deren Kandidat Benoît Hamon mit einem katastrophalen Ergebnis aus dem Rennen ausschied, ebenso wie die Konservativen und ihr vor allem an sich selbst beziehungsweise seiner mangelnden Integrität gescheiterter Kandidat François Fillon bereits zur Wahl Macrons aufgerufen. Die Liberalen unterstützen Macron so oder so, und das „Wunderkind“ trägt eine Welle der Begeisterung vor allem junger Menschen, die im vergangenen Jahr in Scharen in seine junge Bewegung „En Marche“ (Vorwärts) eintraten.

Dass der Linksextremist Jean-Luc Mélenchon, der erstaunlich gut abschnitt, aber eben nicht in die Endrunde einzieht, am Wahlabend keine Empfehlung für den zweiten Wahlgang aussprechen wollte, stellt ihn außerhalb des republikanischen Konsenses. Für einen Linken ist es ungewöhnlich, dass er sich dem „No pasáran“ – Ruf nicht anschließt (Kampfruf im spanischen Bürgerkrieg gegen die Francisten). Aber er war es auch, der gemeinsam mit Le Pen die größte Gefahr für das vereinte Europa bedeutet hätte. Denn wie die Rechtsextremistin will auch Mélenchon Frankreich aus der Union herausführen oder die EU in einer Weise reformieren, die kommunistischen Utopien nahekommt. Die Extreme treffen sich von links und rechts kommend, das zeigt sich auch hier wieder deutlich.

Ein europäischer Föderalist im Elysée-Palast

Das ist auch der Grund, weshalb die europäischen Föderalisten zwar überparteilich sind, aber eben nicht offen für alle Parteien und ihre Parteigänger. Extremismus und die Ziele der europäischen Föderalisten schließen einander kategorisch aus. Der zweite Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl hätte womöglich nur noch die Wahl zwischen zwei europafeindlichen Extremisten gelassen. Mélenchon und Le Pen im zweiten Wahlgang – das wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der Europäischen Union gewesen, jedenfalls wie wir sie kennen. Denn beide wollen den „Frexit“. Ein vereintes Europa mag ohne Großbritannien denkbar sein, ohne Frankreich ist es undenkbar. Mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit wird nun aber Macron der nächste französische Präsident, ein Mann, der sich wie kein anderer französischer Spitzenpolitiker für mehr Europa ausgesprochen hat, ein unkonventioneller Politiker, dessen europapolitische Vorstellungen denen eines europäischen Föderalisten sehr nahe zu kommen scheinen.

Das ist eine große Chance für Europa, eine mögliche positive Wende nach dem Katastrophenjahr 2016. Vielleicht ist es aber auch Europas letzte Chance. Denn scheitert Macron so wie die Präsidenten Sarkozy und Hollande vor ihm, ist ein Abgleiten Frankreichs in politisches Chaos oder doch noch eine Machtübernahme durch Extremisten wie Le Pen oder Mélenchon nicht mehr unwahrscheinlich. Immerhin wählten am 23. April über 40 Prozent der Franzosen extremistische, europafeindliche Kandidaten. Erleichterung also ja, Entwarnung keineswegs. Zumal auch in anderen EU-Staaten – etwa in Italien – die Feinde Europas ante portas stehen.

Deutschlands Verantwortung

Was folgt daraus? Deutschland, dessen staatstragende Parteien fest zur europäischen Vereinigung stehen, muss die Gunst der Stunde nutzen und alles in seiner Macht Stehende tun, damit die zuletzt blutleere, eher von gegenseitigem Misstrauen als von konstruktiver Zusammenarbeit geprägte deutsch-französische Freundschaft wiederauflebt und Zugkraft in Europa entwickelt. Macron, der es nicht leicht haben wird, trotz der unvergleichlichen Machtfülle des Präsidenten der Fünften Republik, eine stabile Parlamentsmehrheit hinter sich zu bringen, wird Unterstützung brauchen, um zu réussieren – zumindest jedoch keinen Gegenwind aus Berlin. Wer auch immer die Bundestagswahl gewinnt, wird gemeinsam mit Macron vor der Aufgabe stehen, die Europäische Union zusammen mit den anderen EU-Partnern zu stabilisieren und, gegebenenfalls auf einer erneuerten Grundlage, fortzuentwickeln.

Bei alledem ist völlig klar, dass Deutschland und Frankreich in einem Europa der 27 nicht alles allein bewegen können und auch nicht dürfen. Auch ein deutsch-französisches „Direktorium“ wäre das Ende der Europäischen Union. Ohne Einvernehmen zwischen Berlin und Paris ist aber kein europäischer Fortschritt realistisch. Und mehr als das. Es wird darauf ankommen, gemeinsam und partneroffen kraftvolle, für Europa förderliche Initiativen zu entwickeln und die Europäische Kommission wieder stark zu machen – wie einst unter Jacques Delors, der sich zumeist der Unterstützung aus Bonn und Paris gewiss sein konnte. Zuwarten wird nicht mehr reichen, denn das wird Marine Le Pen auch. 2022 wird das französische Volk, frei nach Charles de Gaulle, wieder zum Rendezvous mit dem einen Mann oder der einen Frau gerufen. Und dann kann es zu spät sein.

Ein Marshallplan für Europa

Eigentlich liegt auf der Hand, worauf es nun ankommt. Die EU wird scheitern, zuvorderst der Euro, wenn die soziökonomische Kluft zwischen ihren Mitgliedern weiterwächst. Auch Macron betrachtet die ökonomischen Ungleichgewichte in Europa als Problem. Die USA, auch schon vor Trump, der IWF, die meisten nichtdeutschen Ökonomen sehen das so. An dieser Stelle wird Bewegung in Berlin entstehen müssen, sonst wird es eng werden für die Europäische Union. Europa braucht mehr Investitionen, vor allem in Bildung und Forschung, in die digitale Infrastruktur, für die Energieunion, aber auch in herkömmliche Verkehrsnetze, wenn es zukunftsfest bleiben will.

Europa braucht eine Art Marshallplan, nur dass der diesmal nicht von den Amerikanern getragen wird. Die Europäer stehen selbst in der Verantwortung und sie können diese auch wahrnehmen, wenn sie nur wollen. Europa braucht mehr Investitionen, um die Modernisierung der Wirtschaft voranzutreiben. Dann entstehen auch in Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern wieder Arbeitsplätze. Das entbindet niemanden von effektiven Reform- und Sparbemühungen. Anreize für übermäßige Verschuldung dürfen nicht mit einem solchen Marshallplan einhergehen. Das Ziel müssen ausgeglichene Haushalte sein und ausgeglichenere Handelsbilanzen.

Eine Frage von Krieg und Frieden

Auf diese Weise könnte die Massenarbeitslosigkeit in Europa wirksam zurückgedrängt, wettbewerbsfähige Beschäftigung auch für die Zukunft gesichert werden. Auch in Frankreich ist jeder vierte junge Mensch arbeitslos. Bei alledem geht es nicht um eine „Transferunion“, sondern um ökonomische Vernunft und die Frage, ob Europa zusammenbleibt und sich weiterentwickelt oder ob es zerfällt und linke und rechte Nationalisten die Uhren zurückdrehen, das Undenkbare wieder möglich wird in Europa. Denn ja, das politische Europa, sein Erfolg oder Misserfolg, ist eine Frage von Krieg und Frieden.

Ein solcher Marshallplan für Europa hat deutsch-französisches Einvernehmen zur Voraussetzung, auch wenn er selbstverständlich kein ausschließlich deutsch-französisches Projekt sein dürfte. Macron, das zeigen seine bisherigen Einlassungen, könnte für mehr Europa in einem solchen Sinne offen sein. Ignoriert Berlin dies, weist die neue Bundesregierung nach der Wahl im September entsprechende Vorschläge zurück und setzt ausschließlich auf das, was viele Europäer inzwischen hasserfüllt „Austerität“ nennen, werden über kurz oder lang in Kernländern der Union extremistische Kräfte an die Macht kommen. Und dann ist das Spiel aus. Daher geht diese französische Präsidentschaftswahl tatsächlich in ihrer Bedeutung weit über Frankreich hinaus. Sie ist eine Schicksalswahl für Europa, vielleicht Europas letzte Chance. Und Berlin trägt für Gelingen oder Scheitern der EU-Reform, über die nun allerorten diskutiert wird und die nicht losgelöst von dieser Präsidentenwahl zu sehen ist, ein großes Maß an Mitverantwortung.